short stories
Eine Berührung mit dem dicken, schwarzen Fisch (2019)
Eine verlangsamte Videoaufnahme flimmert vor meinen Pupillen umher. Ich fühle eine ebenso verlangsamte Berührung kalter, nackter, schwerer Haut. Ich fühle mich nicht involviert und doch stecke ich mittendrin. Aus dem verrauchten Fenster beobachten mich die glasig-öligen, blutunterlaufenen Augen meiner alten Grossmutter. Drei Handlungen in einer Schachtel.
Weisst du noch? Ich habe dir erzählt von dem Kitzeln des gelben Federboas, von den zerrissenen Netzstrumpfhosen, von den Jägern und Sammlern unserer Zeit. Sie sammeln Artefakte. Kleine Andenken.
Es ist keine Wolke, das merke ich sofort, es schwebt nur dahin und täuscht mir etwas vor. Die Zeit läuft davon und ich sitze nur da, auf einer weiten, saftigen Wiese und starre in den Himmel. Plötzlich fällt sie hinunter. Direkt auf meinen Kopf. Die kleine, dumme, Scheinwolke. So schwer wie ein Stein. So glatt. So da. Eiskalt.
Ich sehe ihr zierliches Gesicht hinter der milchigen Glaswand. Ich strecke meine Hand aus und will sie berühren. Diese Frau, dieses kristallklare Elfengesicht. Mein winziger Zeigefinger bleibt an der rauen, kalten Wandaussenseite kleben. Das Glas erwärmt sich unter meinem rasenden Pulsschlag und heisser Dampf steigt der Glaswand empor. Eine Urwaldpflanze schlängelt sich durch das Gitter und umhüllt ihre sanften Kurven, ihre heissen Oberschenkel und verwebt sich in ihr goldenes Haar. Margarete. Der nächtliche Tau legt sich auf ihre sanfte, straffe Haut nieder und sie erblüht. Plötzlich droht sie sich an ihren eigenen Blüten zu verschlucken. Sie wachsen aus all ihren kräftigen Muskeln und Sehnen. Sie rekeln sich hoch hinaus und werden von ihr erfolglos verdrängt. Ein bitteres Lächeln huscht ihr über die Lippen. Sie kokettiert mit mir und kippt dabei leicht und langsam nach vorne, bis ihre Nasenspitze sanft auf der Glasoberfläche landet. Dann bleibt sie an der feuchten Oberfläche des Glases mit der Nasenfläche kleben. Ihre Augenfarbe zu erkennen erlauben mir das Milchglas und der dichte Dampf nicht. Plötzlich wirkt sie nervös. Sie wippt auf ihren Zehenspitzen hin und her, hin und her, im leisen Takt der wachsenden Pflanze. Ihre Wimpern zittern, ihr splitternder Körper vibriert. Schmerzen durchfluten ihre angespannten Muskeln. Sie versteinert, ganz still. Sie vergeht.
Es ist tatsächlich immer ein ewiges Versteckspiel vor mir selbst. Nur trage ich immer rotweiss geringelte Socken und stolpere gern. Unserer Welt fehlt es, so glaube ich, an vielen Rändern und Ecken.
Wie lange noch? Es rast auf dich zu, liebkost dich, streichelt dich stundenlang. Du tauchst unter, in es hinein und bleibst stecken. Weil alle Probleme wie Salzteig sind. Ich schiebe sie immer zart zur Seite, in die hintersten Ecken meines Gehirns. Dort härten sie aus und gammeln vor sich hin. Und dann werde ich inert Sekunden von etwas zerdrückt, was in keiner meiner Vorstellungen, keinen Milligramm schwer ist. Du wirst schon sehen, das gibt garantiert blaue Flecken.
Es ist gerade erst zur Welt gekommen. So klein, rein und unschuldig. Einfach unglaublich winzig. Händchen wie kleine, kalte Flossen. Kaum ist die Membran abgefallen. Du hältst es also in der Hand. Lass es ja nicht fallen, sonst wachsen die zarten Flügel an den Bruchstellen nicht mehr nach. Der kleine Krümel. Der werdende Schmetterling.
Die Berührung mit dem dicken, schwarzen Fisch gestaltet sich manchmal ein wenig schwer. Seine glitschigen, kalten Schuppen bauen sich zu einer undurchdringlichen, schweren Fassade auf. Zu einem Panzer, einer Ritterrüstung. Manchmal reicht nur ein ganz feiner Anstoss, ja wahrlich ein leichtes Andocken, um sein stummes Nachdenken, sein Schweigen zu verstehen. Und manchmal braucht er einfach einen festen Griff, ein Festhalten. Mit meinen Fingerspitzen fahre ich jede seiner kleinen Rillen und Spalten nach, bis er langsam und sicher seinen Verstand verliert. Mein eiserner Griff gegen seine feste, glatte Rüstung. Das Blut fliesst in saftigen Strömen seinen Bauchnabel hinunter. Ich schwinge ihn in die Luft und er stirbt.
Blut fliesst aus dem weissen, weichen Büschel. So habe ich sie noch nie erlebt. Ihre grossen, weissen Ohren hängen schlapp von ihrem runden, zärtlichen Kopf hinunter. Weinerliches Keuchen und Schnüffeln erklingt im grossen, weissen, scheinbar ins Endlose reichenden Raum. Kleine, rot schimmernde Tröpfchen kullern wie tausend Perlen auf den Kinderzimmerteppich mit dem braun-grauen Teddyprint.
Und dann purzeln sie allesamt aus dem weissen, verschwitzen, daumengrossen Knäuel, wie ein purpurroter Wasserfall. Die weissen Knäuel müssen alle einfangen werden! So schnell wie möglich. Sonst werden sie noch zertrampelt, verstümmelt, zerdrückt und übersehen! Sie sind doch so winzig und schutzlos. - Leider zu spät. Die kleinen Leichen liegen zerstreut wie leere Hüllen im Raum. Ich stosse eine davon an, bin verzweifelt. Sie sehen noch so lebendig aus, ihre Form so weich, so unberührt. Nun sind sie jedoch glatt, kalt und erstarrt. Harte, leere Hüllen. Ein Artefakt eines weichen, unschuldigen Lebewesens.
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A touch with the thick, black fish (2019)
A slow video recording flickers in front of my pupils. I feel an equally slowed-down touch of a cold, bare, heavy skin. I don't feel involved, but I'm right in the middle of it. The glassy, oily, bloodshot eyes of my old grandmother watch me from the smoky window. Three acts in just one box.
Do you remember? I told you about the tickle of the yellow feather boa, about the torn fishnet tights, about the hunters and gatherers of our time. They collect artifacts. Small souvenirs.
It's not a cloud, I realized that immediately, it's just floating along and pretending to be something. Time is running out, and I'm sitting there on a wide, lush meadow, staring up at the sky. Suddenly it falls down. Directly onto my head. The small, stupid, illusory cloud. As heavy as a stone. So smooth. So there. Freezing cold.
I can see her petite face behind the milky glass wall. I reach out my hand and want to touch her. This woman, this crystal-clear elfin face. My tiny index finger sticks to the rough, cold outside the wall. The glass heats up under my racing pulse and hot vapor rises up the glass wall. A jungle plant snakes through the grid and envelops her soft curves, her hot thighs, and weaves itself into her golden hair. Margaret. The night dew settles on her soft, taut skin and she blossoms. Suddenly, she threatens to choke on her own blossoms. They grow out of all her strong muscles and tendons. They stretch upwards and are unsuccessfully suppressed by her. A bitter smile flits across her lips. She flirts with me, tilting forwards slightly and slowly until the tip of her nose lands gently on the surface of the glass. Then she sticks her nose to the wet surface. The frosted glass and the thick vapor don't allow me to see the color of her eyes. Suddenly she seems nervous. She rocks back and forth on the tips of her toes, back and forth, to the gentle beat of the growing plant. Her eyelashes tremble, her splintering body vibrates. Pain floods through her tense muscles. She petrifies, total silence. She fades away.
It really is always an eternal game of hide-and-seek from myself. But I always wear red and white striped socks, and I like to stumble from time to time. I also think our world lacks on many edges and corners.
How much longer? It races towards you, caresses you, strokes you for hours. You dive under, into it, and get stuck. Because all problems are like salt dough. I always push them gently to one side, into the furthest corners of my brain. There they harden and rot away. And then, in a matter of seconds, I'm crushed by something that doesn't weigh a milligram in any of my imaginations. You'll see, it's guaranteed to leave bruises.
It has only just been born. So small, pure and innocent. Simply incredibly little. Hands like small, cold fins. The membrane has barely fallen off. So you're holding it in your hand. Don't drop it, otherwise the delicate wings won't grow back where they broke. The little crumb. The butterfly-to-be.
A touch with the thick, black fish is sometimes a little bit difficult. Its slippery, cold scales build up into an impenetrable, heavy façade. Like a suit of armor, a knight's armor. Sometimes all it takes is a very subtle nudge, indeed a slight docking, to understand his silent reflection, his absence. And sometimes he simply needs a firm grip, a hold. I trace his every little groove and crevice with my fingertips until he slowly and surely loses his mind. My iron grip against his firm, smooth armor. The blood flows in juicy streams down his belly button. I swing him into the air and he dies.
Blood flows from the white, soft tuft. I've never seen her like this before. Her large, white ears hang limply down from her round, tender head. Weepy panting and sniffing can be heard in the large, white, seemingly endless room. Small, shimmering red droplets roll like a thousand pearls onto the nursery carpet with its brown-grey teddy print.
And then they all tumble out of the white, sweaty, thumb-sized ball like a purple waterfall. The white balls must all be caught! As quickly as possible. Otherwise, they will be trampled, mutilated, crushed and overlooked! They are so tiny and defenceless. - Unfortunately too late. The little corpses lie scattered around the room like empty shells. I bump into one of them, desperate. They still look so alive, their form so soft, so untouched. But now they are smooth, cold and frozen. Hard, empty shells. An artifact of a soft, innocent creature.
Eingelegter Dialog (2018)
Etwas huscht zwischen den Regalen. Die verdoppelten Scheiben glänzen. Über den Präparaten schwebt im kalten Novemberlicht der Museumsstaub. Mit jedem Schritt spüre ich die Schwerelosigkeit der medizinischen Sterilität intensiver. Der Geruch des stets nach Desinfektionsmittel duftenden Kachelbodens steigt meine schwachen Nasenlöcher hoch. Das Eingelegte spricht zu mir:
ES: «Mir ist kalt. Alles um mich herum ist immer kalt. Schon seit einem halben Jahrhundert ist hier alles kalt, erkältet und erkaltet. Wir sind eben eingelegt.»
ICH: «Warum?»
ES: «Ich wurde von keiner einzigen Bombe getroffen. Deswegen bin ich immer noch hier. Meine Stücke klebten nie an den Ruinen der Stadtmauern und meine Flüssigkeit tränkte nie den letzten Löwenzahn. Ich bin nur etwas krank. Eines Tages drängte sich eine ganz einfache Schokoladenzyste aus den Wölbungen meines Gehirns empor. Alle hier sind krank, gekränkt, erkrankt, und gefangen irgendwo zwischen Studienpräparaten und dem Tod.»
Ich sitze ganz nah an der Scheibe und blicke in sein wach blinzelndes Auge. Es wellen sich seine Haut und Zunge. Die Zunge mit den grossen Grübchen, die Haut mit den tiefen Poren. Wellt sich auch sein Flaum?
Vier Glieder ragen in die Ferne des Einmachglases. Ich beisse in mein Marmeladenbrot. Der rote Saft spritzt und fliesst auf meinen Adern entlang meines Unterarmes. Der Tropfen stoppt erst, als er sich mit dem Graphitpulver auf meiner Fingerkuppel vermischt hat. Langsam rollt der Tropfen Richtung Erdinneres, in die Tiefe, bis ich mich fast an meiner Seele verschlucke. Mein Auge gibt nur noch ein winziges Blinzeln von sich und dann ist es still. Todesstille.
Tiefe Schluchten bilden sich in seiner Haut. In der Haut der Missgeburt.
Vom missratenen Wicht. Vom ausserirdischen Wesen. Vom Ungeborenen.
Aus seiner offenen Bauchhöhle ragt eine Kapsel. Dann springt auch sie heraus, eilt durch den Flur voller Därme und Zirrhosen und ist plötzlich fort.
ES: «Früher hat mich eine Plazenta geschützt, weich und sanft war sie. Sie zersprang in tausend Splitter und Fetzen. Weg war sie. Dann konnte die Nabelschnur auch keine Marmelade mehr in unseren Magen leiten. Seit dem Formaldehyd ist auch mein Hunger fort. Ich sauge nicht mehr, es zieht mich nur noch. Es zieht mich in sich hinein. In mich hinein. In uns hinein.»
Durch den doppelten Glasschutz verzieht sich alles.
ICH: «Ich frage mich, was deine Tumoren eigentlich wollen?»
ES: «Sie wuchsen und blieben stehen. Sie hängen nun in der Luft, wenn da eine wäre. Sie blasen sich auf, füllen sich mit reizend gelblicher Flüssigkeit und schweben davon. Sie flüchten und verstecken sich in der hintersten Ecke meines nie zerfallenen Körpers. Sie bleiben auf Ewigkeiten gefangen, bis das Glas vielleicht einmal aus dem Regal fällt und zerbricht.»
Es runzelt die Stirn und starrt mich mit seinem trüben Auge an.
ES: «Wir, wir zwei aneinander gewachsenen Köpfe. Wir zwei Körper mit vier Armen und vier Beinen, mit zwei Ohren und einem Auge. Und doch sind wir eins. Assen für eins und waren eins, geblieben ist keins.»
Meine Hand gleitet regelmässig übers Papier. Bearbeitet wird jede Faser, jede Vene, jede Faszie des Eingemachten. Graphitasche erhellt das graue Linoleum des Museumsbodens.
«Singst du mir ein Minnelied?», fragt es mich.
Ich fange an zu Summen und meine Stimme mischt sich mit dem Gurgeln und Brummen seiner feuchten Kehle.
Ich verstehe das leise Heulen dieses Wesens, denn es spricht, es spricht mit mir und es singt das Lied meiner Tiefen. Vom Menschen in mir drin. Vom Menschen in uns allen.
ES: «Wir lebten in ihr, in ihrer Plazenta. Wir lebten von ihrem Blut und Gesang. Doch sie trank und trank und trank. Sie schwebte auf Rauchwolke sieben und war nie mit sich zufrieden.»
Dann ging sie eines Tages von uns und wir landeten hier, an diesem beschissenen Ort.
Zwei schwarze Schafe und doch eins. Alles geteilt, geteilt waren wir und teilten sie uns, starben jedoch mit ihr und landeten hier, wegen ihr.»
Ich kneife mein Auge zu und ich messe die Abstände seiner verzerrten Armglieder. Sein Auge kneift sich auch zu, es lauscht.
ICH: «Lächelst du nie? Bist du immer so betrübt?»
ES: «Ich klaue mir eines Tages dein Lächeln, wenn du so weitermachst. Doch wir hoffen bald umzukippen, dann brauchen wir dein Lächeln nicht mehr, niemands Lachen, und schon gar nicht das Gelächter unserer Beobachter.»
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The potted Dialogue (2018)
Something is scurrying between the shelves. The doubled panes shine. Museum dust floats above the specimens in the cold November light. With each step I feel the weightlessness of medical sterility more intense. The smell of the tiled floor, which always smells of disinfectant, rises up my weak nostrils. The potted speaks to me:
IT: "I’m cold. Everything around me is always cold. For half a century now, everything here has been cold, cold and chilly. We're just potted."
ME: "Why?"
IT: "I have not been hit by a single bomb. That’s why I’m still here. My pieces never stuck to the ruins of the city walls and my liquid never soaked the last dandelion. I’m just a little sick. One day a very simple chocolate cyst burst out of the bulges of my brain. Everyone here is sick, offended, sick, and caught somewhere between study preparations and death".
I sit very close to the pane and look into his waking blinking eye. His skin and tongue are waving. The tongue with the big dimples, the skin with the deep pores. Does his fluff also curl?
Four limbs protrude into the distance of the pickling glass. I bite into my jam bread. The red juice splashes and flows on my veins along my forearm. The drop only stops when it has mixed with the graphite powder on my fingertip. Slowly the drop rolls towards the earth's interior, into the depths, until I almost swallow my soul. My eye emits only a tiny blink - silence. Deathly silence.
Deep ravines form in its skin. In the skin of the monster.
Of the misshapen runt. Of the alien being. Of the unborn.
A capsule protrudes from his open abdominal cavity. Then it too jumps out, rushes through the hall full of intestines and cirrhosis and is suddenly gone.
IT: "A placenta used to protect me, it was soft and gentle. It burst into a thousand splinters and shreds. It was gone. Then the umbilical cord couldn't pass any more jam into our stomach. Since the formaldehyde, my hunger is gone too. I no longer suck, I am only drawn to it. It pulls me into itself. Into me. Into us.“
The double glass protection makes everything warp.
ME: "I wonder what your tumours actually want?"
IT: "They grew and stopped. They now hang in the air, if there was one. They inflate, fill up with irritating yellowish liquid and float away. They flee and hide in the farthest corner of my body, which never disintegrated. They remain trapped for eternity until the glass falls off the shelf and breaks.
It frowned and stared at me with its dull eye.
IT: "We, we two heads grown together. We two bodies with four arms and four legs, with two ears and one eye. And yet we are one. Aces for one and were one, none remains."
My hand regularly glides over the paper. I work on every fibre, every vein, every fascia of the preserves. Graphite ash illuminates the grey linoleum of the museum floor.
"Will you sing me a Minnelied?", it asks me.
I begin to hum and my voice mixes with the gurgling and humming of its damp throat.
I understand the soft howling of this being, because it speaks, it talks to me, and it sings the song of my depths. Of the human being inside me. Of the human being within us all.
IT: "We lived in her, in her placenta. We lived on her blood and song. But she drank and drank and drank. She floated on a cloud of smoke number seven and was never satisfied with herself. One day she left us, and we ended up here, in this shitty place. Two black sheep and yet one. All divided, she divided us, we shared her, but we died with her and ended up here, because of her."
I squint my eye, I measure the distances between his distorted arm limbs. His eye pinches shut, it listens.
I: "Do you never smile? Are you always so sad?"
IT: "I'll steal your smile one day if you go on like this. But we hope to tip over soon, then we won't need your smile any more, nobody's laughter, and certainly not the laughter of our observers.”